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Christliche Werte in der europäischen Politik

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(pdr) Am Donnerstagabend, 15. Juli, hat im Hohen Dom St. Peter wieder das Regensburger Domforum stattgefunden. Bischof Dr. Gerhard Ludwig Müller begrüßte Dr. Hans-Gert Pöttering MdEP, Präsident des Europäischen Parlaments a.D. und Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, bei der prominenten Veranstaltungsreihe. Er erinnerte daran, dass die Bischöfe immer wieder die Gläubigen auffordern, an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Die christlichen Wurzeln Europas müssten gepflegt werden, damit sich Europa nicht zu einem Koloss auf tönernen Füßen entwickelt, sondern Früchte trägt auch in Zukunft.

Im folgenden der Wortlaut des Vortrags von Dr. Pöttering:

Christliche Werte in der europäischen Politik

I.
Die ehrenvolle Einladung, vor Ihnen zu sprechen, erfüllt mich mit Dank und Freude. Sie reihen mich ein in eine Reihe bedeutsamer Persönlichkeiten, die seit 2005 im Rahmen des „Domforum Regensburg“ gesprochen haben. Sie haben diese unterdessen etablierte Institution mit dem einzigen lebenden Ehrenbürger Europas begonnen, mit Helmut Kohl. Mit der Einladung an mich rücken Sie wieder die Perspektive Europas ins Zentrum. Das ist eine starke und gute Geste in einer Zeit, in der die Europaidee an Beliebtheit verloren zu haben scheint. Im Dom zu Regensburg kann man gar nicht anders als europäisch zu denken!

Mir ist wohl bewusst: Der Dom, in dem wir zusammenkommen, befindet sich im Bereich der Porta Praetoria, dem Nordtor des alten Römerkastells. Bonifatius, der mit Regensburg so stark verbundene „Apostel der Deutschen“ war englischer Europäer. Der heutige gotische Dom von Regensburg ist Ausdruck des Architekturstils, der mit seinen wie ein Gebet in den Himmel ragenden Türmen an vielen Orten in der Europäischen Union unsere Stadtbilder prägt.

In dieser Europäischen Union mit 500 Millionen Menschen aus 27 Ländern ist das Europäische Parlament heute in allen wichtigen Fragen der europäischen Politik neben dem Europäischen Rat (also den Staats- und Regierungschefs) und der Europäischen Kommission der dritte Pfeiler im Gefüge der Institutionen. Gemeinsam mit dem Ministerrat, der die Regierungen vertritt, sind wir im Europäischen Parlament, dem ich seit seiner ersten Direktwahl 1979 angehöre, Gesetzgeber. Faktisch ist das Entscheidungssystem der Europäischen Union stark vom Konsensgedanken geprägt. Deswegen haben wir übrigens auch dort eine Stimme, wo es formal eher nach dem Primat der Regierungen ausschaut - wie etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik. Manchmal sind die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union kompliziert. Aber wer wüsste besser als unsere gemeinsame katholische Kirche, was es bedeutet, immer wieder den Konsens zu suchen? Das kann kompliziert sein, aber wo es gelingt, stärkt es alle Beteiligten.

II.
Sie haben mich gebeten, über christliche Werte in der europäischen Politik mit Ihnen nachzudenken. Über den Wert der Werte ist viel gesagt, geschrieben und diskutiert worden. Gerade als Christen wissen wir, dass Werte gelebt werden sollen und dass sie gelebt werden müssen, um zu überzeugen. Das gilt für unser alltägliches persönliches Leben, es gilt für das gemeinsame Leben in unserem Kontinent Europa. Werte geben uns eine Ordnung, in der wir uns orientieren können. Die Ordnung soll nicht einengen. Sie soll uns vielmehr helfen und uns frei machen für die Weite des Lebens.

Der große Theologe Romano Guardini hat es einmal so gesagt, wobei er statt „Werte“ den für uns vielleicht etwas altmodisch gewordenen Begriff „Tugend“ verwendet hat: „Eine echte Tugend bedeutet einen Durchblick durch die ganze Existenz des Menschen. In ihr wird ein ethischer Wert zur Dominante, welcher die lebendige Fülle der Persönlichkeit zusammenfasst.“ Das mag beim ersten Hinhören etwas theoretisch klingen. Aber das Wort von Guardini trifft auf unser persönliches Wachstum ebenso zu wie auf die Frage, was in Europa wertvoll, ja: wertevoll sein kann. Denn wenn wir Europa als Wertegemeinschaft beschreiben wollen, spüren wir, dass wir tiefer graben müssen als es uns die täglichen Schlagzeilen vorgeben. Aber es ist auch richtig: in den Schlagzeilen des Tages muss der Anspruch sichtbar werden, dass und warum christliche Werte in Europa von Bedeutung sind.

Im Kern meines Verständnisses von Europa als Wertegemeinschaft steht der Mensch mit seiner unverwechselbaren Würde. Als Christen glauben wir, dass Gott uns diese unverwechselbare Würde verliehen hat. Mit unserem Leben hat er sie uns geschenkt. Wir können unsere Menschenwürde selber missachten oder erniedrigen. Menschenwürde kann durch das Verhalten anderer beschädigt werden. Aber die Menschenwürde kann keinem Menschen genommen werden. Deshalb muss es der oberste Maßstab der Politik sein, die Menschenwürde zu sichern und ihre Entfaltung zu ermöglichen. Denn Politik ist für den Menschen da – und nicht umgekehrt.
Das war in Europa nicht immer so, wie wir alle wissen. Die Staaten und Völker Europas haben bedeutsame Lehren aus den schweren Katastrophen der europäischen Geschichte gezogen. Es soll nie wieder Krieg geben in Europa. Es soll nie wieder totalitäres Denken geben und schon gar nicht totalitäre Regime. Wir wollen Frieden und Freiheit in Europa sichern, gerade weil wir erlebt haben, wie schlimm es für die Menschenwürde vieler Einzelner wird, wenn Unfrieden und Unfreiheit herrschen. Am Ende wurde es auch schlimm für das Ansehen Europas vor der Weltgemeinschaft. Weil wir die Menschenwürde ins Zentrum Europas gerückt haben, müssen wir konsequent und geradlinig darauf achten, dass Europa ein Hort des Einsatzes für die Menschenwürde ist und immer bleibt:

· Deshalb müssen wir für Demokratie und Freiheit in Belarus eintreten, wo die letzte Diktatur im heutigen Europa besteht.

· Deshalb müssen wir das Leben in allen seinen Phasen schützen und dürfen medizinischen Fortschritt nicht zum Selbstzweck werden lassen.

· Deshalb müssen wir die Schöpfung bewahren, damit auch die nächsten Generationen Energie, ein lebenswertes Klima und genügend natürliche Ressourcen vorfinden.

· Deshalb müssen wir Minderheiten achten und im respektvollen Umgang zwischen allen Völkern, Gruppen und Menschen zeigen, dass das Leben in Europa wertevoll für alle ist.

· Deshalb müssen wir uns einsetzen für Menschenrechte in aller Welt, auch in Tibet, und deshalb darf uns die Zukunft Afrikas nicht unberührt lassen.

III.
Europa ist wertevoll nur dann, wenn wir die großen Tugenden der christlichen Ethik immer wieder in praktisches politisches Handeln übersetzen. Der bereits von mir erwähnte Theologe Romano Guardini hat uns schon vor Jahrzehnten in seinem Buch „Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens“, das 1967 in Würzburg erschienen ist, über wichtige Verhaltensweisen aufgeklärt, die unser Leben zeitlos wertvoll und würdevoll machen. Ich habe noch einmal in dieses Buch hineingelesen und möchte seine Tugend-Liste einfach einmal nennen. Sie besteht aus 17 Begriffen: Wahrhaftigkeit, Annahme, Geduld, Gerechtigkeit, Ehrfurcht, Treue, Absichtslosigkeit, Askese, Mut, Güte, Verstehen, Höflichkeit, Dankbarkeit, Selbstlosigkeit, Sammlung, Schweigen, die Gerechtigkeit vor Gott. Sie werden fragen, was haben denn diese Tugenden mit der Europäischen Union zu tun? Ich möchte gerne versuchen, mit jeweils einem kurzen eigenen Gedanken zu jeder der von Guardini genannten Tugenden den Bogen zum heutigen Auftrag an eine christlich inspirierte Politik in Europa zu schlagen:

1. Wahrhaftigkeit: Erst die ehrliche Auseinandersetzung mit den Ursachen und der Schuld an den beiden verheerenden Kriegen des 20. Jahrhunderts hat Europa zu einem Neubeginn befreit. Erst die ehrliche Ablehnung jeder Art von Diktatur hat Europa dazu befreit, zu einer wahrhaftigen Ordnung der Freiheit zu finden, von der seit der Antike immer wieder geträumt worden ist.

2. Annahme: Erst wenn wir uns annehmen, so wie wir sind, können wir mit uns selber im Reinen leben und unsere Mitmenschen achten. Deshalb ist es für Europa immer wichtig, dass wir alle Völker unseres Kontinents achten und keinen Unterschied zwischen kleinen und großen Staaten in Europa machen. Wir haben in Europa gelernt, dass die Vielfalt unseres Kontinents unsere eigentliche Stärke ist und die Qualität des Lebens in Europa auszeichnet. Diese Vielfalt an Kulturen, Sprachen und Lebensweisen wollen wir auch in Zukunft schützen und bewahren.

3. Geduld: Rom ist nicht in einem Tag gebaut worden und die Einigung Europas wird es auch nicht. Seitdem ich 1979 zum ersten Mal in das Europäische Parlament gewählt worden bin, hat Europa sich auf fast wundersame Weise entwickelt. Geduld war der richtige Kompass, damit schließlich die Einheit Europas in Freiheit möglich werden konnte. Mit Geduld haben wir erreicht, dass heute das Europäische Parlament als Stimme der Völker Europas in allen wichtigen Gesetzgebungsverfahren der EU gleichberechtigt mitentscheidet.

4. Gerechtigkeit: Europa kann nur so stark in der Welt der Globalisierung sein wie wir im Innern der EU Sinn für Gerechtigkeit haben. Europas Fortschritt an einer Stelle darf nicht auf Kosten der Würde von Menschen an anderer Stelle gehen. Wir wollen Arbeit für alle und Wohlstand für alle, damit unsere Europäische Union sich in den Chancen, aber auch in den Problemen der Globalisierung bewährt.

5. Ehrfurcht: Die Umwelt haben wir zu unserem persönlichen Leben sozusagen dazugeschenkt bekommen. Umweltschutz, Klimaschutz und eine Energiepolitik, die Sparsamkeit im Umgang mit den natürlichen Ressourcen verbindet mit einer klugen und kreativen Sicherung der Energieversorgung von allen Gesellschaften Europas ist deshalb ein so wichtiges politisches Programm, weil sich darin unsere Ehrfurcht vor der Schöpfung ausdrückt.

6. Treue: In früheren Zeiten galt in der europäischen Politik das Prinzip der Stärke. Heute gilt das gemeinsame Recht, das die Schwachen schützt und alle europäischen Staaten miteinander bindet. Das europäische Recht über Landesgrenzen und unterschiedliche nationale Interessen hinweg anzuerkennen bedeutet, treu und verlässlicher Partner der anderen EU-Mitgliedsstaaten und ihren Gesellschaften zu sein. Das ist der ursprüngliche Sinn des Wortes „föderal“: Im alten Rom hieß es „foedus“ und meinte „Bundesgenosse“ im Sinne wechselseitiger Loyalität. Heute erkennen wir, dass das europäische Recht auch dann bindend für ein Land ist, auch für unser eigenes, wenn es uns einmal nicht gerade passt, was für alle in der EU beschlossen worden ist.

7. Absichtslosigkeit: Die Europäische Union tritt der Welt heute in Partnerschaft gegenüber. Dies ist verbunden mit legitimen eigenen Interessen und dem Eintreten für unsere Werte. Wenn wir uns für Menschenrechte im Sudan oder für eine friedliche und gerechte Lösung des Nahost-Konfliktes einsetzen, so tun wir dies im Namen unserer Werte und Überzeugungen. Wir tun es ausdrücklich nicht, weil wir die Absicht verfolgen würden, irgendeine Weltregion dominieren zu wollen. Europa ist heute gerade deshalb in aller Welt geachtet, weil unsere Erfahrungen in der EU mit der friedlichen Konfliktbeilegung und dem Ausgleich verschiedener Interessen auch attraktiv für andere Weltregionen geworden sind.

8. Askese: Aus der Geschichte der Friedlosigkeit in Europa können wir immer wieder lernen, dass wir uns zurücknehmen müssen, um Ausgleich mit anderen zu finden. Askese klingt sehr nach persönlichem Diät- und Sportprogramm. Aber auch für die Völker Europas ist es eine gesunde Erfahrung geworden, nicht immer maßlos die eigenen Interessen zu verfolgen und mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Zurückhaltung ist ein guter Leitfaden, um eigene Ziele mit den Interessen anderer zu versöhnen. Die Europäische Union hat beständig diese Aufgabe. Wo sie gelingt, ist Europa wertvoll, weil alle sich in diesem Europa wieder finden können.

9. Mut: Wir werden in Europa nur eine gute Zukunft haben, wenn uns der Mut zu Visionen nicht verlässt. Politik ist oft mühevoll und nüchtern. Realismus ist nötig, gar keine Frage. Aber wir brauchen immer wieder den Schwung, der aus Visionen und großen Zielen erwächst. Deshalb braucht die Europäische Union das Engagement vieler junger Menschen, die ihre Träume von einem Europa der Zukunft in das politische Leben einbringen.

10. Güte: Guardini verknüpfte die Tugend der Güte mit unserer Fähigkeit zum Mitleid. „Wehe der Güte, „so schrieb er, „wenn sie es zwar gut meint, aber schwach ist. Ihr kann es passieren, dass sie an ihrem eigenen Mitfühlen zu Grunde geht.“ Deshalb sollten wir nie nachlassen in unseren Beiträgen zur Überwindung der Armut, des Hungers und des Elends in weiten Teilen der Welt. Es kommt nicht darauf an, dass wir stolz werden auf unsere Entwicklungshilfe; es kommt darauf an, dass wir uns überall und noch mehr als bisher engagieren, wo Menschen leiden. Wo wir dies tun, ist Europa wertvoll für andere und wird als wertevoll von anderen empfunden.

11. Verstehen: Andere zu verstehen heißt noch nicht, alles zu akzpetieren was sie bewegt. Es heißt aber, Respekt zu haben vor dem anderen mit seiner eigenen Würde. Deshalb engagiere ich mich so sehr für den Dialog der Kulturen, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass ein intensiver und würdiger Dialog der Kulturen und Religionen die Basis für eine friedliche Zukunft unseres Kontinents und der Beziehungen Europas in alle Welt hinein ist. Dialog der Kulturen ist die weltweite Anwendung des Gedankens der Menschenwürde im Zeitalter der Globalisierung.

12. Höflichkeit: Nicht von ungefähr sagt ein Sprichwort „Der Ton macht die Musik“. Der Stil, mit dem wir in der Europäischen Union Politik machen, sagt viel aus über den Respekt der Menschen voreinander. Europa ist nur dann wertevoll, wenn der Umgang im Alltag, im Privatleben, im Beruf und auch in den Foren der Politik von Höflichkeit und gegenseitiger Achtung geprägt sind. Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein und gewiss ist es keine europäische Besonderheit. Im Europäischen Parlament achte ich sehr darauf, dass die Regeln des respektvollen und höflichen Umgangs miteinander von allen eingehalten werden, gleichgültig welche Überzeugungen uns auch trennen.

13. Dankbarkeit: Ich empfinde immer noch und immer wieder neu Dankbarkeit, wenn ich mit Menschen aus den früher östlich des Eisernen Vorhangs gelegenen Ländern zusammentreffe. Nie hätte ich mir vor zwanzig Jahren träumen lassen, wie selbstverständlich es ist, mit Polen, Esten, Ungarn, Letten, Tschechen, Rumänen, Slowaken, Bulgaren, Litauern, Slowenen und Bulgaren in der gleichen Europäischen Union zusammen zu arbeiten, so wie es heute der Fall ist. Dankbarkeit ist in der Politik selten, aber Dankbarkeit für geschichtlichen Fortschritt sollten wir nicht vernachlässigen, denn solches Glück, wie wir es in der friedlichen und freiheitlichen Vereinigung Europas erfahren, ist selten genug in unserem Leben.

14. Selbstlosigkeit: Solidarität mit den Armen in der Dritten Welt, aber auch mit allen vom Leben Benachteiligten unter uns ist eine politische Pflicht, die aus der christlichen Ethik der Nächstenliebe und der Selbstlosigkeit entstanden ist. Was in Krankenhäusern, Pflegeheimen und in der Hilfe für Behinderte geleistet wird verdient unser aller Dank. Nicht weniger selbstlos sind die, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern, als Mütter in den Familien, als Lehrer und Erzieher. Politik muss die Chance zur mitmenschlichen Zuwendung und auch zum Ehrenamt fördern, sonst verkümmert unser gesellschaftliches Leben.

15. Sammlung: Als die Europäische Union nach den gescheiterten Volksabstimmungen zur Europäischen Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden eine Denkpause ausgerufen hat, war dies keine leere Rhetorik und schon gar keine Pause vom Denken. An wichtigen Wegkreuzungen der Politik täten wir alle, die wir politisch tätig sind, gut daran, uns immer genug Zeit zur Sammlung, zum Nachdenken, zum besonnenen Studium aller Aspekte einer Angelegenheit zu nehmen. Der politische Betrieb muss immer wieder daran erinnert werden, dass Lautstärke und Schnelligkeit im Produzieren von Entscheidungen kein Wert an sich sind. Erst aus Konzentration und kluger Abwägung der verschiedensten Gesichtspunkte erwachsen gewissenhafte Entscheidungen. Wir Politiker dürfen uns nicht nur treiben und hetzen lassen, wenn uns manchmal vorgeworfen wird, politische Entscheidungsverfahren würden meistens zu lange dauern. Zur politischen Führung gehört auch die Kraft zum Bohren dicker Bretter.

16. Schweigen: Zur Politik gehört aber auch das Schweigen und Zuhören. Politiker sind nicht deshalb gewählt, um den Menschen nach dem Munde zu reden. Sie sind aber auch nicht gewählt, um ohne Punkt und Komma zu jedem nur denkbaren Thema Stellung zu nehmen. Die meisten Materien der Politik sind kompliziert und erfordern Sachkenntnis. Die müssen wir Politiker uns aneignen, indem wir zuhören, mit den Menschen reden und immer wieder Innehalten.

17. Die Gerechtigkeit vor Gott: Als Christen wollen wir, dass unser irdisches Tun vor Gott bestehen kann. Er setzt die letzten Maßstäbe, um zu beurteilen, ob das, was wir tun, recht ist und vor seiner Gerechtigkeit bestehen kann. Für Europa und die Politik in Europa heißt dies, dass wir stets anerkennen müssen, nur von vorletzten Dingen zu handeln. Selbstbeschränkung und, ja ich sage es, Demut, müssen uns leiten, wenn wir Europa wertevoll weiterentwickeln wollen. Dann können wir getrost Gott das letzte Urteil überlassen.

Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind einige der Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich davon spreche, dass Europa in erster Linie eine Wertegemeinschaft ist. Mancher empfindet das Wort als eine hohle Phrase, ich weiß es. Jeder hat im Einzelfall andere Prioritäten und Anliegen, die sie oder er mit dem Begriff der Wertegemeinschaft verbindet. Aber ich bin überzeugt: wir sind doch geeint in der Überzeugung, dass Europa mehr ist als Diplomatie und Wirtschaft, als technische Entscheidungen und taktisches Kalkül.

IV.
Wir sprechen in Europa immer wieder gerne vom christlich-jüdischen Erbe, wenn wir nach den Wurzeln unserer Werte fragen. Tatsächlich haben das jüdische und das christliche Erbe in Europa ihre tiefsten Spuren hinterlassen, in religiöser, in kultureller und in politischer Hinsicht. Die Werte, von denen in der politischen Kultur Europas heute gesprochen wird – vor allem die Menschenwürde – sind nicht zu erklären ohne das jüdisch-christliche Erbe. Dabei weiß ich sehr wohl den großen Beitrag des Islam etwa in Andalusien während der Zeit des Kalifats von Cordoba zu würdigen. Die Wahrhaftigkeit gebietet es, die Beiträge der großen drei Weltreligionen und Kulturen so zu beschreiben wie sie zum historischen Kern der europäischen Identität beigetragen haben. Immer wieder haben christliche Extreme zu Unrecht und Leid geführt, unter Christen, gegenüber Juden und Muslimen. Am schlimmsten waren die furchtbaren Verbrechen an den Juden im Holocaust. Die politisch gewollte und industriell organisierte Tötung eines ganzen Volkes ist beispiellos in der Geschichte. Deshalb sind wir in Europa dankbar, dass es wieder jüdischen Leben an vielen der Orte gibt, in denen dieses in der Zeit der nationalsozialistischen Raserei erstickt worden war. Zugleich leben wir heute in einem Europa, in dem Muslime die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den Christen bilden. In vielen Städten gibt es mittlerweile eine oder mehrere Moscheen.

Ich sage es ausdrücklich und gerade hier in diesem so würdigen Gotteshaus meiner eigenen katholischen Kirche: Wir alle müssen immer wieder neu das friedliche Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden in Europa fördern. Ich persönlich fühle mich in ganz besonderer Weise dem friedlichen Dialog der Kulturen und Religionen verpflichtet. Ich lehne es ab, vom Krieg der Kulturen zu sprechen, weder in Europa noch im Nahen Osten oder sonst irgendwo auf der Welt. Zumeist sind die Ursachen der Konflikte unserer Zeit komplexer Natur. Nicht selten wird dabei leider auch die Religion für politische Zwecke missbraucht. Häufig gibt es soziale Spannungen, die sich immer mehr aufbauen und mit religiösen Themen vermischen. Das alles ist wahr. Viele gute Analysen gibt es über das Wesen von Konflikten. Aber es gibt viel zu wenige Analysen über das Wesen der Konfliktüberwindung.
Wir in Europa wollen den ehrlichen, aufrichtigen und offenen Dialog mit dem Islam. Dazu gehört, dass wir die Fragen, die Menschen Angst machen und die von Extremisten missbraucht werden, tabufrei ansprechen. Ich nenne das Verhältnis zur Gewalt in der Politik. Ich nenne das Recht auf Religionsfreiheit und das Recht, seine Religion zu wechseln, ohne irgendwelchem Druck ausgesetzt zu sein. Wir in Europa haben vielleicht nicht immer ein sehr genaues Verständnis von der starken sozialen Rolle islamischer Bewegungen, die wichtige soziale und karitative Aufgaben wahrnehmen. Wir sollten diese Bewegungen nicht immer, nicht pauschal und nicht in jedem Falle vorschnell als fundamentalistisch oder gar als terroristisch brandmarken. Wir müssen genauer hinschauen und unser Urteil differenziert fällen. Aber umgekehrt dürfen wir Christen erwarten, dass der christliche Westen im 21. Jahrhundert nirgendwo mehr in islamischen Ländern als eine Welt der Kreuzfahrer gebrandmarkt wird. Wir wollen den Dialog der Kulturen und wir wollen Partnerschaft. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Frage nach dem, was unsere Gesellschaften jenseits des Wirtschaftlichen zusammenhält für Menschen aller religiösen Glaubensüberzeugungen von größter Wichtigkeit. Ohne einen Wertekompass wird jede Gesellschaft Schwierigkeiten haben mit der Globalisierung – oder besser gesagt: mit sich selbst. Das gute nachbarschaftliche Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden ist deshalb eine große Aufgabe in unserer heutigen Zeit.

V.
Heute ist der Dialog der Kulturen zu einem elementaren Baustein der weltweiten Friedensordnung geworden. Globalisierung bringt alle Menschen dieser einen Welt näher zueinander als jeder frühere technische Fortschritt. Aber so reiben sich auch Widersprüche schneller aneinander und so können Gegensätze rascher als früher eskalieren. Wir haben erlebt, wie mit dem internationalen Terrorismus eine neue Form der Gewalt in die Weltpolitik eingezogen ist. Auch wenn Terroristen sich im Namen des Islam in die Luft sprengen und viele unschuldige Opfer mit in den Tod reißen: Sie missbrauchen eine große Weltreligion, die im Kern eine friedliche Religion ist. Als Christen verwahren wir uns zu Recht gegen jede Unterstellung, wegen der Kreuzzüge oder wegen der Kriege zwischen christlichen Nationen oder wegen der Bürgerkriege in christlichen Ländern sei das Christentum eine Religion der Gewalt. Den gleichen Respekt sollten wir dem islamischen Glauben entgegenbringen.
Wir verurteilen jede Form des Terrorismus, aber wir verurteilen ebenso jeden Kampf der Kulturen. Es darf einen solchen Kampf nicht geben, wenn wir eine friedliche Welt wollen. Europa steht in besonderer Weise in der Pflicht, den Dialog mit den arabischen Nachbarn auf der südlichen Seite des Mittelmeeres und mit der islamischen Welt insgesamt zu führen. Unvergesslich für mich ist die Begegnung von Papst Benedikt XVI. mit dem König von Saudi-Arabien: Dies war ein Akt von allergrößter Symbolkraft – für beide Seiten. Wir müssen auf allen Ebenen den offenen und freimütigen Dialog mit der arabischen und islamischen Welt fördern. Es gibt dazu keine Alternative, auch wenn es viele kritische Punkte in diesem Dialog gibt.

In besonderer Weise müssen wir unsere Stimme für die Lage der Christen in der arabischen Welt erheben, vor allem im Irak, im Libanon und im Sudan. Sie benötigen unsere Solidarität in besonderer Weise, ja sie benötigen unseren Schutz. Ich war vor kurzem im Sudan und habe das Gespräch und das Gebet mit den dortigen Christen gesucht. Aber auch im Gespräch mit muslimischen Persönlichkeiten habe ich die Religionsfreiheit als Schlüssel zu einer guten Zukunft des flächenmäßig größten Landes von Afrika angesprochen. Wir müssen auch immer wieder auf die gleichberechtigte Religionsfreiheit für Christen in unserem Partnerland Türkei zu sprechen kommen. Einen guten gemeinsamen Weg zwischen der EU und der Türkei kann es nur geben, wenn es in der Türkei selbstverständlich sein wird, einen christlichen Gottesdienst zu feiern oder Priester der griechisch-orthodoxen Kirche auszubilden. Dies muss in der Türkei ebenso selbstverständlich werden wie es bei uns selbstverständlich ist, dass türkische Muslime ihre Religion in einer der vielen Moscheen ausüben können, die es heute zu Recht überall in Europa gibt.

Der Dialog der Kulturen ist nicht bloß eine schöne rhetorische Aktion. Er ist ein Dauerprojekt, bei dem wir auch vor Schwierigkeiten und Spannungen nicht zurückschrecken dürfen. Es wäre auch gänzlich falsch, den Dialog der Kulturen immer nur als eine Initiative zu verstehen, bei der wir für unsere Werte werben müssten und im Partner Veränderungen hervorrufen wollen. Wir selber werden oft durch den Dialog mit Menschen einer anderen Kultur, einer anderen Religion, einer anderen Lebensweise bereichert und beschenkt. Ich erfahre es immer wieder in der Begegnung mit Muslimen, Juden und Menschen anderer Religionen und Kulturkreise. Das Entscheidende für einen gelingenden Dialog unter Angehörigen unterschiedlicher Religionen und Kulturen ist der Respekt voreinander und die Ehrlichkeit im Umgang miteinander. Wo dies gegeben ist, gelingt der Dialog, davon bin ich zutiefst und durch viele eigene Erfahrungen überzeugt. Damit werden wir Verbündete des Friedens, den die Europäische Union weltweit als ihre wichtigste Aufgabe sieht.

VI.
Für uns Europäer ist der Kompass für den Dialog der Kulturen eindeutig geeicht: Wir treten unzweifelhaft für Menschenrechte in aller Welt ein. Menschenrechte sind unteilbar und sie sind die Grundlage für unsere internationale Zusammenarbeit als Europäer in der EU.
Wer Menschenrechte verletzt, kann sich auf kein anderes noch so gutes und großes Ziel berufen. Menschenrechtsverletzungen müssen geächtet werden, denn sie sind ein Skandal unserer Zeit. Wir sind im Europäischen Parlament über alle Parteigrenzen hinweg darin einig, dass der universelle Einsatz für die Menschenrechte die Glaubwürdigkeit der europäischen Politik in zentraler Weise betrifft. Wir würden unsere eigenen Ideale preisgeben, unsere Lehren aus der eigenen Geschichte vergessen und zu schäbigen Opportunisten der Weltpolitik werden, wenn uns die Verletzung der Menschenrechte irgendwo auf der Welt unberührt ließe.
Dies ist nicht nur ein moralisches Gebot. Wir wissen, dass ohne Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit kein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt und keine humane Entwicklung möglich sind. Dies gilt für alle Länder der Erde, vor allem aber für die ärmsten unter ihnen.

VII.
Gerne möchte ich zum Schluss meiner Überlegungen auf einen politischen Wert zu sprechen kommen, der - so meine ich - stärker denn je ins Zentrum unseres politischen Denkens rücken sollte, wenn wir nach christlichen Werten in der Politik fragen: der Wert der Solidarität. Von dem Leitspruch der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ haben es in zweihundert Jahren vor allem Freiheit und Gleichheit weit gebracht. Vernachlässigt wurde bei allem Streit um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit aber immer wieder die dritte Idee, die auf den Fahnen der Französischen Revolution stand: die Brüderlichkeit. Politisch sprechen wir heute von Solidarität. Theologisch sprachen wir schon immer von Nächstenliebe. In diesem Wort – Nächstenliebe, Solidarität, Brüderlichkeit – liegt aus meiner Sicht der Schlüssel zu einem wahrhaftigen und unserer Zeit der Globalisierung angemessenen Verständnis für die Verantwortung des Christen in der Welt.

Wenn wir Freiheit bewahren wollen und wenn wir Gerechtigkeit mehren wollen, so müssen wir den Wert der Brüderlichkeit, der Solidarität in die Mitte unseres politischen Denkens führen. In der Europäischen Union haben wir im Geist der Solidarität ein einzigartiges politisches Wunder vollbracht, das am Ende des Zweiten Weltkrieges kaum jemand für möglich gehalten hätte. Mit der Wiedervereinigung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges haben wir uns in dem Prinzip der Solidarität zwischen den Staaten und den Völkern der alten und der neuen EU bewährt. Aber dennoch hat seither die Kraft der Solidarität im Innern Europas eher wieder nachgelassen. Und seien wir ehrlich: In unserem Verhältnis zu den anderen Völkern der Erde, vor allem der ärmsten unter ihnen, steckt die Idee der Solidarität bestenfalls in den Kinderschuhen.

Hier muss die Politik ansetzen: Wir brauchen heute mehr denn je einen europäischen Geist der Solidarität. Und wir benötigen mehr denn je einen europäischen Geist der Solidarität mit allen anderen Völkern und Kulturen dieser einen Welt. Dieses sind die beiden wichtigsten sozialethischen Aufgaben, vor denen die Europäische Union steht. Dabei geht es nicht bloß darum, materielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Auch darum geht es, wie wir bei der Rettungsaktion für Griechenland und für die Sicherung eines stabilen Euro so handfest erlebt haben. Um materielle Gesichtspunkte geht es natürlich auch bei allem Bemühen um den sozialpolitischen Ausgleich in Europa und bei den Aufgaben der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit. Aber im Kern geht es bei allen großen Fragen des menschlichen Miteinander um eine geistige Einstellung, die vielfach wohl eine geistige Erneuerung erforderlich macht: Wir sollten auch mit den Mitteln der Politik dafür werben, im Sinne des Solidaritätsgedankens an die großen Aufgaben heranzugehen, die vor uns liegen.

„Entwicklung ist der neue Name für Friede,“ so hat es Papst Paul VI. 1967 in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ formuliert. Heute, so meine ich, müssen wir einen Schritt weitergehen und sagen „Solidarität ist der neue Name für Frieden“. Indem wir dies so formulieren, bringen wir Freiheit und Gleichheit wieder in das ihnen angemessene Verhältnis zur Solidarität. Damit findet unter den Bedingungen der heutigen Welt das Streben nach Gerechtigkeit seine tiefste ethische Wurzel, die Wurzel der Brüderlichkeit und, christlich gesprochen, der Nächstenliebe.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Aufgabe der globalen Solidarität nicht nur ein materielles Anliegen ist. Gerechtigkeit und Frieden, Ausgleich und Anerkennung wird es zwischen den Völkern und Staaten dieser Welt nur geben, wenn wir auch im Dialog über unseren Glauben und die Grundlagen unserer Kultur solidarisch, brüderlich verfahren. Vor einem Jahr hat der ungarische Kardinal Peter Erdö im Rahmen des „Domforum Regensburg“ davon gesprochen, dass Europa dann am besten ein Ganzes bildet, wenn wir - wie er sagte - einen „Austausch der Gaben“ vornehmen, die uns allen auf je unterschiedliche Weise zu eigen sind. In die Politik übersetzt heißt für mich dieser theologische Gedanke: Wo immer es uns gelingt, unsere kulturellen und religiösen Wurzeln zum Vorschein zu bringen, werden wir auch in der säkularisierten Umwelt des heutigen Europa in christlicher Verantwortung gute Politik machen können. Wir müssen den Gedanken der Solidarität zu einem politischen Projekt schmieden, das einlädt zum Dialog über alle Mauern hinweg, die unsere Welt heute trennen. Ich bin zutiefst überzeugt: Nur Solidarität kann den Weg weisen zu mehr Freiheit und zu mehr Gerechtigkeit für immer mehr Menschen auf dieser Welt. Politik, die aus christlichem Verständnis des Menschen handelt, sollte in dieser Aufgabe nie in ihrem Ehrgeiz nachlassen.

[Es gilt das gesprochene Wort]



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