Adalbert Stifters Naturbetrachtungen
Wie groß ist Gott, wie herrlich ist seine Welt!
Regensburg, 3. Oktoberber 2023
Der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter (1805-1868) gehört zu den Dichtern, die lange Zeit verkannt waren. Erst im 20. Jahrhundert wurde ihm jene Ehre zuteil, die seinem wahren Rang entspricht. Hermann Hesse (1877-1962) charakterisierte ihn mit den Worten: „In etwas Grundsätzlichem und tief Wesentlichem ist dieser bescheidene alte Dichter modern, aufregend und vorbildlich: Er sucht … stets mit glühender Seele nach dem Wesen wahrer Menschlichkeit, und er beginnt sein Suchen und beendet sein Finden im Geist der Ehrfurcht“ (zitiert nach Rudolf Stertenbrink, In Bildern und Beispielen. Bd. 3, Freiburg 1982, 30).
Die Unendlichkeit des Meeres
Wie zutreffend dieses Urteil des Dichterkollegen ist, offenbart sich in der Art und Weise, wie Adalbert Stifter sein erstes Erlebnis des Meeres schildert. An seinen Freund Johann Ritter von Fritsch schreibt Adalbert Stifter im Sommer 1857: „Wir sind gestern von Triest auf dem Weg über Udine wieder hier eingetroffen. Ich habe nun das Meer gesehen. … Was sind alle Alpen und andere Dinge bei uns gegen die Großartigkeit des Meeres? Jetzt, da ich es gesehen habe, glaube ich, ich könnte gar nicht mehr leben, wenn ich es nicht gesehen hätte. Die … Größe dieser Erscheinung hat auf mich einen Eindruck gemacht, der einen Wendepunkt in meinem Geistesleben hervorbringt. Ich bin plötzlich reich geworden, und ich habe eine unverlierbare Sehnsucht erhalten, das `ewige Meer´ (wie Homer sagt) nie mehr ganz aus den Augen zu verlieren. Es ist, als wäre meine Seele viel weiter als früher, und als fließe aus der Unendlichkeit außer mir Nahrung für die Unendlichkeit in mir. … Der Himmel … war ganz heiter, es war bewölkt, ein Gewitter habe ich von Venedig her aufsteigen sehen. … Jede Stunde ist Farbe, Gestalt und Bewegung des Meeres anders, immer … schien mir die Majestät des Meeres lieblich“ (Brief an den Freund Johann Ritter von Fritsch vom 28. Juni 1857, in: ders., Briefe, Zürich 1947, 269 f).
Die Größe der Welt und die Größe Gottes
Adalbert Stifter war immer darum bemüht, dem menschlichen Herzen die Größe der Welt, die Größe des Menschen und die Größe Gottes zu erschließen. Er tat es, weil er an die erzieherische Macht der Dinge und Vorgänge in der Welt glaubte. Oft hatte er diese Macht in seinem Leben erfahren. Am intensivsten aber erlebte er sie im Blick auf das Meer. Warum machen sich auch heute viele Menschen auf den Weg zum Meer? Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Unendlichkeit, die in jedem Menschen lebt. Wenn sich diese Sehnsucht nicht entfalten kann, wird der Mensch unglücklich.
Die Seele des Menschen
In einem Aufsatz mit dem Titel „Von der Seele“ hat Hermann Hesse einmal geschrieben: „Lebensfeindlich – so sagt deine Seele – wirst du, wenn du mich vernachlässigst, und du wirst es bleiben und wirst daran untergehen, wenn du dich mir nicht mit ganz neuer Liebe und Sorgfalt zuwendest. … Kriege führen auch die Ameisen, Staaten haben auch die Bienen, Reichtümer sammeln auch die Hamster. Deine Seele sucht andere Wege, und wo sie zu kurz kommt, wo du auf ihre Kosten Erfolge hast, blüht dir kein Glück. Denn `Glück´ empfinden kann nur die Seele, nicht der Verstand, nicht der Bauch, Kopf oder Geldbeutel“ (Von der Seele, in: H. Hesse, Mein Glaube, Frankfurt a. M. 1971, 18 f). Ameisen, Bienen und Hamster sind ständig unterwegs – getrieben von Haben-Wollen und Begierden. Sie haben wenig Seele. Denn die Seele sucht andere Wege: Wege, auf denen das rastlose Verfolgen kleiner Ziele zur Ruhe kommt und begierdelose reine Betrachtungmöglich wird. Daher ist der Weg zum Meer mit Sicherheit ein Weg der Seele. Im Schauen seines unendlichen Ausmaßes fällt alles Endliche und alles Haben-Wollen von Endlichem wie von selbst von der Seele ab. Das Unendliche schauend, erfährt die Seele etwas von ihrer eigenen Unendlichkeit. All die vernachlässigten Kräfte und Empfindungen der Seele werden lebendig. Ehrfürchtiges Staunen, mit dem alles wirkliche Sehen beginnt, bricht in der Seele auf. So kommt der Mensch durch das Meer zu sich selbst. Es vermittelt ihm eine Ahnung von seiner eigenen Größe, Weite und Tiefe. Aus der Unendlichkeit außerhalb des Menschen fließt Nahrung für die Unendlichkeit in ihm (vgl. R. Stertenbrink, In Bildern und Beispielen, 31 f).
Die Weisheit Gottes
Der Anblick des Meeres führt den Menschen über sich selbst hinaus. Als Adalbert Stifter an einem frühen Morgen – auf einem Hügel sitzend – zwei Stunden lang auf das tief unter seinen Füßen liegende Meer schaute, erkannte er: „Wie groß ist Gott, wie herrlich ist seine Welt!“ (Briefe, Zürich 1947, 270). Durch die schauende Betrachtung des Meeres offenbarte sich Adalbert Stifter die Größe, die Tiefe und die Weite Gottes. Der Dichter machte eine Erfahrung, die auch dem Völkerapostel Paulus widerfahren ist: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas gegeben, sodass Gott ihm etwas zurückgeben müsste? Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“ (Röm 11,33-36)
Gott – ein tiefes Meer
Die grenzenlose Dynamik des Meeres, die den Betrachter fortwährend Neues entdecken lässt, offenbart auch uns Gottes Weisheit und Herrlichkeit, vor der alle menschlichen Worte zu einem hilflosen Stammeln schrumpfen. Viele Eigenschaften Gottes spiegeln sich wider in den Eigenschaften des Meeres. Deshalb kann Katharina von Siena, die große Heilige und Kirchenlehrerin des 14. Jahrhunderts, in der Form eines Gebetes sagen: „Du, ewige Dreifaltigkeit, bist ein tiefes Meer, in dem ich immer Neues entdecke, je länger ich suche. Und je mehr ich finde, desto mehr suche ich dich …“ (in: Lektionar zum Stundenbuch, II, 3, S. 268).
Vor dem unendlichen Geheimnis Gottes
Das staunende Erleben des Meeres wurde für Adalbert Stifter zum Wendepunkt seines geistigen Lebens. In ihm erwachte die Sehnsucht, das „ewige Meer“ nie mehr aus den Augen zu verlieren. Er hatte den Wunsch, fortan sein kleines Leben in der Gegenwart des großen Gottes zu leben. Das lässt uns an den bedeutenden englischen Mathematiker und Physiker Sir Isaac Newton (1643-1727) denken, der einmal sein alltägliches Leben mit dem Spiel eines Kindes verglichen hat, das sich am Strand des Meeres eifrig mit Muscheln und Steinen beschäftigt, während vor ihm der Ozean rauscht. Was sagt uns dieses Bild? Es verdeutlicht, wie sehr sich Newton bewusst war, all seine Arbeit vor einem unendlichen Geheimnis zu tun. Dieses Bewusstsein lässt den Menschen gleichsam zu einem Kind werden, dessen Herz weit, empfänglich und vertrauend ist. Deshalb vermag das Unendliche, einen tiefen Einfluss zu nehmen auf sein ganzes Wesen, all sein Tun und seinen Umgang mit den Dingen des alltäglichen Lebens. Wo wir Menschen beginnen, uns wie ein Kind vor dem Meer zu verhalten, da kommen wir mit unserem geistigen Leben an einen Wendepunkt, an dem unser eigentliches Leben – vor Gott und mit Gott – erst beginnt.
Text: Domkapitular Prof. Dr. Josef Kreiml, Bilder: Prof. Dr. Veit Neumann