Sterben in Würde

27.01.2015

Warum der Mensch an der Hand, nicht durch die Hand eines anderen sterben sollte

"Mein Wille geschehe" – vieles im Leben läuft heute nach diesem Motto ab, denn Freiheit und Selbstbestimmung sind hohe Güter. Aber gerade in Krankheit, Alter und vor dem Tod kommen viele Menschen an eine Grenze. Sich nicht mehr selbständig versorgen zu können, auf andere angewiesen sein – das alles ist ungewohnt und macht Angst. Deshalb werden Stimmen laut, die auch bis zum letzten Schritt Autonomie fordern: Der assistierte Suizid soll eine einfache Lösung bieten. Doch dabei wird Entscheidendes ausgeblendet: Durch den Suizid wird nicht das Leid gelindert, sondern der Leidende ausgelöscht. Deshalb ist es das Anliegen vieler Menschen, sich für Kranke und Sterbende Zeit zu nehmen, ihnen in ihrer Not beizustehen, Hospizpflege und Palliativmedizin auszubauen, Schmerzen zu lindern, den Sterbenden an der Hand zu begleiten – statt ihn durch sein Zutun auszulöschen. 

Der renommierte Philosoph Prof. Robert Spaemann, die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben Mechthild Löhr sowie engagierte Christen sprechen über ein wahrhaft würdevolles Sterben und ihre ganz persönlichen Erfahrungen in der Begleitung von Sterbenden.


Der renommierte Philosoph Prof. Robert Spaemann spricht im Interview mit Julia Wächter über paradoxe Verschiebungen im Begriff der Würde, über Gefahren, die sich aus einer Legalisierung des assistierten Suizids ergeben würden, sowie über die Aufgaben der Kirche und jedes einzelnen Menschen.


Der Begriff "Sterben in Würde" wird sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern der Sterbehilfe verwendet. Wie kommt es zu dieser mutmaßlichen Verschiebung und Umdeutung im Begriff der Würde?

Die Würde kommt nicht dem Menschen als einem ausschließlich organischen Lebewesen zu, sondern deshalb, weil er ein spirituelles Subjekt, ein Ich ist. Es wird aber immer stärker eine Trennung zwischen dem Menschen als biologischem Wesen und einem über der Materie schwebenden Ich vorgenommen. Die Anhänger des Selbstmordes sprechen davon, dieses Ich würde mit dem Tod verschwinden. Folglich hätte der Mensch, der dann kein Mensch mehr wäre, keine Würde mehr. Dabei wird er nicht als Leib-Seele-Wesen verstanden, sondern – man müsste eigentlich sagen – als eine reine Seele. Das ist natürlich paradox, weil diese Leute meistens zugleich Biologisten und Materialisten sind. Sie müssten eigentlich die entgegengesetzte Theorie vertreten. Die ganze moderne Ideologie leidet unter einem tiefen inneren Widerspruch und das zeigt sich gerade an der Doppelbedeutung des Wortes Würde.
 


Angenommen, ein Mensch, der Suizid begeht, ist der Überzeugung, dass mit dem Tod alles ein Ende nimmt. Wie kann dieser Mensch trotz der Härte seines Daseins ein – aus seiner Sicht – "Nichts"  bevorzugen?
 

Sein Dasein wird diesem Menschen immer unangenehmer und so kommt es zum Bilanzselbstmord. Man wägt Vor- und Nachteile ab und entscheidet anschließend, welcher Pol überwiegt. Der Mensch macht sich somit selbst zu einer Sache. Solidarität mit dem Sünder, aber klare Missbilligung der Sünde ist hier zu fordern.
 


Ist die Auffassung, der Mensch könne nicht absoluter Herr über sein eigenes Leben sein, auch bei Nichtgläubigen rechtfertigbar?
 

Das ist keine Erfindung der Christen. Schon Sokrates schrieb, das Leben sei uns geschenkt. Ein Ungläubiger jedoch glaubt nicht daran, dass der Mensch einen Herrn hat. Höchstens Argumente, die auf dem Naturgesetz basieren, könnten von ihm als sinnvoll erachtet werden. So kann man auch das Verbot der Beihilfe zur Tötung aus den Erfordernissen der allgemeinen Sicherheit verdeutlichen. Der Mensch muss gegenüber allen seinen Mitmenschen seines Lebens vollkommen sicher sein. Und das ist er nicht mehr, wenn es eine Tötungserlaubnis gibt. Der Mensch ist nicht absoluter Herr über sich, sondern er muss auch die anderen respektieren. Wenn er wirklich ungläubig ist, wird er eventuell sogar die Pflicht gegenüber dem Nächsten nicht respektieren. Dann führt die Argumentation dem hartnäckigen Ungläubigen gegenüber nicht zum Erfolg. Es gibt allerdings wenige Menschen, die wirklich gewiss sind, dass es keinen Gott gibt. Die meisten Menschen heute sind Agnostiker: Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, vielleicht ja, vielleicht nein. Einem solchen Menschen gegenüber kann man noch argumentieren, beispielsweise mit der Pascalschen Wette: Wenn nichts auf dem Spiel stünde, wäre es vielleicht egal, ob es Gott gibt. Wenn es aber um die Ewigkeit geht und wenn man nur einen Hauch von Zweifel an einer absoluten Gottlosigkeit hegt, dann gilt die Prämisse, so zu handeln, als wenn es die Wahrheit wäre. Der Glaube ist eine große Freude und ein Trost. Was hätte man verloren, wenn es Gott nicht gäbe? Gar nichts.


Gibt es ein objektives richtig und falsch im Falle des Sterbens oder kann jeder für sich selbst entscheiden, was "würdig" ist?
 

Am Ende wird dieser letzte Schritt des Sterbens nicht mehr in vollem Bewusstsein vollzogen. Aber das ist bei dem Selbstmörder genau dasselbe wie bei demjenigen, der eines natürlichen Todes stirbt. Das Sterben in Würde ist ja ein Sterben, das ein leib-seelischer Vorgang ist. Der Mensch stirbt, indem die Seele sich vom Leib trennt. Es stirbt nicht der Organismus für sich und es stirbt nicht die Seele für sich, sondern der Tod ist ein auf den ganzen Menschen Bezogenes. 
 

Auch für die Todeskriterien in Hinblick auf die Hirntoddebatte ist das wichtig. Wann tritt eigentlich der Tod ein? Traditionellerweise war es so, dass der Mensch für tot erklärt wurde, wenn er nicht mehr atmet. Dann hat man früher vorsichtshalber einen Arzt dazu gezogen, der prüfen musste, ob die Angehörigen, die sehen, dass er gestorben ist, Recht haben oder ob da doch noch etwas Leben ist. Damals holte man den Arzt also, um sicher zu sein, jemanden nicht vorzeitig zu töten. Und manchmal konnte er sagen: Moment, dieser Mensch ist noch nicht tot. Es gibt noch eine Spur von Atem beispielsweise. Jetzt aber ist es genau umgekehrt. Bei der künstlichen Lebensverlängerung, wenn ein Mensch an Apparate angeschlossen ist und nur durch deren Hilfe am Leben bleibt, wird heute oft davon gesprochen, der Mensch sehe nur lebendig aus, er atmet noch und hat noch eine rosige Gesichtsfarbe, aber das sei alles nur wegen der Maschinen. In Wirklichkeit aber sei er tot – ein Appell zur Organentnahme. Der Arzt spielt nun die umgekehrte Rolle. Früher war es die Rolle der Vorsicht, nicht zu früh jemanden zu begraben. Jetzt dient er dazu, die Skrupel beiseite zu räumen und zu sagen: Lass mal, der ist tot. 
 

In der Harvard-Definition war der Tod des Menschen der Hirntod. Das hatte dann zur Folge, dass man Leuten die Organe entnahm, die gar nicht wirklich tot waren, und im Grunde wussten die Ärzte das auch. Warum haben sie sonst den Menschen bei der Organentnahme eine Narkose gegeben? Gibt man Leichen eine Narkose? Inzwischen ist deutlich geworden, dass die ganze Hirntoddefinition nicht stimmt. Daraus ziehen die einen die Folgerung: Stopp, ihr könnt diesen Menschen nicht die Organe entnehmen, sie sind nicht tot. Die anderen sagen: Na gut, dann machen wir jetzt ein Gesetz, das das Töten erlaubt. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, die Person sei tot und höre auf, Person zu sein, wenn sie nicht mehr als Person ansprechbar sei. Diese Unterscheidung zwischen Menschsein und Personsein ist aber ganz verhängnisvoll. Der Mensch als Ganzes ist Person und steht in personalen Rollen: Er ist Vater, Mutter, Tochter, Tante und so weiter. Das sind alles personal besetzte Rollen, die nicht an ein Ende kommen, in dem Augenblick, in dem der Mensch außer Bewusstsein ist. Die extremen Vertreter der gegenteiligen Position behaupten, der Mensch habe aufgehört, Person zu sein, wenn er schläft. Wenn er wieder aufwacht, ist er nicht dieselbe Person als diejenige, die eingeschlafen ist. Er erbt nur bestimmte Erinnerungsstücke. Wenn ich mich also an meine Kindheit erinnere, wäre ich das gar nicht wirklich. Ein solcher Kampf ist zum Schluss nicht mehr wissenschaftlich entscheidbar, denn die Frage "Wann ist der Mensch tot?" ist keine Frage an die Wissenschaft, sondern unterliegt der Wahrnehmung innerhalb einer Gesellschaft. Wir nehmen den Toten als Toten wahr, wir behandeln ihn als Toten, wir behandeln den Leichnam entsprechend. Darum ist es auch eine Katastrophe, dass die katholische Kirche die Feuerbestattung begleitet, denn sie greift aufgrund der niedrigen Kosten immer mehr um sich. Ich habe immer vorgeschlagen, dass die Gemeinden einspringen, wenn jemand die Erdbestattung nicht bezahlen kann. Wenn die Kirche die Feuerbestattung nicht begleiten würde, würden viele Leute es nicht tun.

 

 
 

Glauben Sie auch, ähnliches würde einsetzen, wenn man die Tötung und den assistierten Suizid legalisiert?


Ja.


Viele Menschen bevorzugen die Feuerbestattung wegen der andererseits hohen Kosten und aus Rücksicht auf ihre Angehörigen, die für diese Kosten aufkommen müssen. Übertragen auf die Debatte um die Sterbehilfe: Wird der Mensch sich für ein Weiterleben rechtfertigen müssen?

Dieses Argument spielt eine große Rolle und ist bereits heute Realität. Man muss dem Patienten zusichern können: Du bist nicht schuld, dass deine Angehörigen so viel zahlen müssen. Das kann man aber nur sagen, wenn es keinen anderen Ausweg für die Angehörigen gibt. Dass es strafbar wäre, würde einen solchen falschen Ausweg unmöglich machen, denn so kann der Sterbewillige das nicht verlangen. Man muss dabei den großen Unterscheid zwischen Selbsttötung und Beihilfe heranziehen, der darin besteht, dass Selbsttötung den Gesetzgeber nicht zu interessieren braucht. Es gibt Länder, in denen der versuchte Selbstmord strafbar ist. Das halte ich für falsch. Der Mensch kann aussteigen. Ob das sittlich gerechtfertigt ist, ist eine andere Frage. Als Christ würde man es als nicht erlaubt ansehen. Aber der weltliche Gesetzgeber kann sich darauf berufen, er habe über den Todeswilligen, der ja aus dem ganzen Gesellschaftssystem aussteigen will, keine Gerichtsvollmacht. In dem Augenblick allerdings, in dem zwei Personen betroffen sind, greift das Gesetz. Und es muss greifen. Was ein Mensch mit einem anderen tut, unterliegt der Gesetzgebung. Deshalb darf man nicht folgern, da der Selbstmord nicht verboten ist, muss auch die Beihilfe erlaubt sein. Außerdem macht man einen großen Fehler, wenn man sagt, die Selbsttötung sei erlaubt. Sie ist weder erlaubt noch nicht erlaubt. Da hat der Staat nichts zu befehlen, nichts zu verbieten. Wenn das Gesetz im Falle des assistierten Suizids nicht greifen würde, steigt der Druck, die Selbsttötung zu verlangen. Bis hin zu dem Umgekehrten, dass Menschen in Ländern, in denen der assistierte Suizid legal ist, ohne ihre Zustimmung getötet werden. Aus Angst kommen Menschen nach Deutschland, weil sie sich hier sicherer fühlen. 


Sie haben bereits die Bedeutung des Arztes angesprochen. Würde sich das Ethos des Arztes verändern, wenn er zum Töten berechtigt oder verpflichtet wird?

Unbedingt. Es ist ein Ruin des ärztlichen Ethos. Das ärztliche Ethos ist bestimmt durch den Imperativ zu heilen, Leiden zu beseitigen oder zu mildern. Aber nicht dadurch, dass man den Leidenden abschafft. Da endet die Aufgabe des Arztes. Der Kranke muss das Gefühl haben, ich kann niemanden dazu bewegen, mich zu töten. Und das tröstet. Für die Autorität des Arztes ist es katastrophal im Augenblick, da der Patient das Gefühl hat: Jetzt ist er noch so nett, morgen bringt er mich um. Dann wird der Arzt ein Macher, der über Tod und Leben entscheidet. Das ist furchtbar. Dazu zählt ebenso, dass man niemanden aus seinem Leben befreien wollen kann, denn befreien setzt einen Zustand voraus, den der Befreiende anstrebt. Das Paradoxe ist, dass die einzige Handlung im Leben, die vollkommen autonom ist, der Selbstmord ist. Tot zu sein ist aber kein Zustand, den ich anstreben kann, denn damit beseitige ich mich als Freiheitssubjekt. 


Der Mensch braucht Vertrauen. Viele geben trotz anhaltender Schmerzen den Wunsch auf, zu sterben, wenn sie Liebe, Zuwendung und Unterstützung von anderen Menschen erfahren. Wie ist mit dieser Erfahrung angemessen umzugehen? Gibt es auch einen wirklichen Wunsch, zu sterben, der nicht durch Vertrauen und Liebe beseitigt werden kann?


Den Wunsch, zu sterben, hat mancher, der schwer krank ist. Aber das ist etwas völlig anderes, als der Wunsch getötet zu werden. Die Bitte richtet man allenfalls an Gott: Ruf mich! Angenommen, ein mir nahestehender Mensch würde mir die Bitte vortragen, ihm beim Sterben zu helfen, ihn umzubringen, dann müsste ich antworten: Du kannst nicht verlangen, dass ich von dir sage, es soll dich nicht mehr geben. Das geht über das hinaus, was ein Mensch tun und sagen darf. Dieser Mensch könnte alles verlangen, aber er kann nicht verlangen, dass ich möchte, dass er verschwindet. Und wenn er fragen würde, ob ich ihn zu einer Sterbehilfeorganisation in die Schweiz begleite, würde ich versuchen, ihm das auszureden. Ich würde ihm nicht helfen, aber ich würde ihn dennoch begleiten und bei ihm bleiben. Aber er muss wissen, ich halte das, was er tut, für ganz grundlegend falsch. Er soll es sich bis zum Schluss überlegen. Das ist Solidarität auch mit dem Sünder. Egal was er tut, ich bleibe bei ihm. Aber man kann keine Barmherzigkeit üben, indem man die Sünde begünstigt. Den Sünder lieben und die Sünde hassen, schreibt der heilige Augustinus. 


Sterben und Tod sind Tabuthemen in unserer Gesellschaft. Warum schiebt der Mensch Tod, Leid und Schmerz aus seinem Sichtfeld? Geschieht dies aus Angst? Aus Unbequemlichkeit?


Es ist unangenehm. Dahinter steckt die Vorstellung, es gäbe keine Wahrheit, nur Lust und Unlust. Wenn es nicht so etwas wie eine Wahrheit gibt über den Menschen, demgemäß diese Wahrheit ihren festen Punkt in Gott hat, wird daraus geschlossen, alles sei erlaubt. 


Ist es möglich, eine Kultur des Sterbens wieder in die Gesellschaft zu integrieren?


Nur in Grenzen. Direkt gesellschaftspolitisch wirken kann man verhältnismäßig wenig, aber man sollte es tun. Angesichts dessen, was heute passiert, auch in der Genderdebatte, muss man kämpfen. Aber es gibt viele Dinge, große Trends, die man schwer beeinflussen kann. Das einzige, was man tun kann, ist es, zu versuchen, selber richtig zu leben, und das in einem Kreis von Menschen, die auch versuchen, richtig zu leben und eine große Anziehungskraft über andere ausüben können. Es muss in einem Meer Inseln des richtigen Lebens geben.


Was könnten solche Inseln sein? Einzelne Menschen, die Kirche?

Vor allem die Kirche ist die große Insel. Aber solche Inseln sind überall, wo es Menschen gibt, die so leben, als wenn Gott existierte. Dann hat man getan, was man kann. Die Kirche muss nicht zu viel Zeit verschwenden, Überlegungen anzustellen, wie wir den modernen Menschen erreichen können. Gut, das ist eine Frage, die man natürlich auch stellen muss. Aber die entscheidende Frage ist vielmehr: Was müssen wir tun, um in unserer widergöttlichen Zeit nach Gottes Willen zu leben? Wie sieht ein solches Leben aus?