Durch das Kirchenjahr: Richter oder Witwe?
… mit Benedikt:
29. Sonntag im Jahreskreis C – Lukas 18,1-8
In einer Stadt lebte eine Witwe, die sich immer wieder an den örtlichen Richter wandte. „Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher!“ sagt sie (Lk 18,1-8). Der Richter aber will einfach nicht. Wir erfahren sehr wenige Details. Wer ist der Widersacher der Witwe und worin besteht der besagte Rechtsstreit? Ist die Witwe tatsächlich im Recht oder nicht? Warum will der Richter ihr nicht zu ihrem – vermeintlichen? – Recht verhelfen? Darum aber geht es nicht. Denn: Den Richter trifft doch ganz klar die Pflicht, in dieser Angelegenheit vorzugehen. Er ist der zuständige Richter der Stadt. Zu ihm kommt überdies eine Witwe. In der Heiligen Schrift sind Witwen meist arme Menschen – sie haben keinen Mann mehr, der in der Welt, wie sie damals nun mal war, für ihren notwendigen Unterhalt sorgen konnte. Kurz: Witwen mussten oft um ihre Existenz fürchten. Umso mehr wäre es die Pflicht des Richters, sich ihren Rechtsfall überhaupt erst einmal anzusehen und, wenn begründet, auch tatsächlich Recht zu sprechen.
Er aber will ganz einfach nicht – und lässt sich am Ende doch noch zu seinem Richterspruch hinreißen. Nicht aus Mitleid mit der Frau, nicht aus besserer Einsicht. Er sagt sich vielmehr: „Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auf keinen Menschen Rücksicht; weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mir ins Gesicht“ (Lukas 18,4-5). Es sind also zwei Motive, die den Richter zum Handeln bringen: Er ist ein bisschen genervt, aber hat auch ein wenig Angst, die aufgestaute Wut der Frau könnte in einer körperlichen Auseinandersetzung enden.
Warum erzählt Jesus dieses Gleichnis, das wir an diesem Sonntag hören? Jesus sagt: „Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich Recht verschaffen“ (Lukas 18,7-8). Wenn schon, könnte man ergänzen, dieser ungerechte Richter aus vollkommen ungerechten Motiven der Frau hilft – um wie viel mehr wird Gott denen helfen, die aus ihrer Not zu ihm rufen? Ja, er wird sich der Seinen erbarmen. Ja, wirklich? Wie viele leiden Hunger und Durst, müssen unverschuldet im Krieg leben, verlieren ihre Kinder, sterben durch Umweltkatastrophen, leiden unter ungerechten Strukturen? Und wie viele von ihnen schreien zu Gott, Tag und Nacht?
Und trotzdem gibt es all das Leid auf dieser Welt. Die Frage, wie das Übel dieser Welt mit dem Glauben an einen guten und allmächtigen Gott zu vereinbaren ist, beschäftigt die Menschen, seit sie an Gott glauben. Sie ist hier nicht zu lösen. Jesus aber fügt noch einen Satz hinzu: „Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?“ (Lukas 18,8). Damit bezieht Jesus das Gesagte wieder auf das Ende der Welt, auf den Tag des Gerichts, an dem Gott die Welt „richtet“, gerade macht, repariert. In der Heiligen Schrift beschäftigt sich etwa das Buch der Offenbarung des Johannes beinahe ausschließlich mit der Frage, wie Gott dann den Seinen Gerechtigkeit erweisen wird. Vielleicht müssen wir bis ans Ende der Welt warten, bis Gott uns und allen „unverzüglich Recht verschafft“.
Und doch bleibt noch die Frage Jesu im Raum stehen: „Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?“ Wieder einmal erweist sich Jesus als genialer Literat. Denn sein Gleichnis ist wie so oft doppelt lesbar. Hört man es zum ersten Mal, wird man sich automatisch mit der armen Witwe solidarisieren. Der Richter kommt ja auch wirklich nicht gut weg. Er wird als Mensch beschrieben, der „Gott nicht fürchtete“, auf andere Menschen keine Rücksicht nahm und das Ganze dann auch noch selbst zugibt. Wie kann man nur so sein?
Der letzte Satz der Perikope dreht den Blick dann aber um. Wird der Menschensohn den Glauben auf der Erde finden? Anders gesagt: Wird er uns als glaubende Menschen finden? Oder kann es nicht sein, dass wir im Gleichnis nicht unbedingt den Platz der Witwe einnehmen würden, sondern eher den des Richters – vielleicht nicht immer, aber doch hin und wieder? Kann es nicht sein, dass auch wir manchmal Gutes nur deswegen tun, weil wir bedrängt werden oder ganz einfach unangenehme Konsequenzen fürchten?